Ein prickelndes Erlebnis
Ausprobiert: OWO Haptic Gaming System simuliert Treffer
Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass sowohl Virtual wie auch Augmented Reality immer noch lediglich einen Nischenmarkt besetzen. Zumindest auf den Anteil von allen Computernutzern betrachtet. Dabei befinden sich bereits Millionen VR Headsets in privater Nutzung. Alleine Sony hat binnen sechs Wochen nach Marktstart im Februar über 600.000 Exemplare ihres PSVR2-Headsets verkauft.
So begegnet man VR Brillen auch im Alltag immer häufiger. Und von Technikmessen wie der Gamescom sind sie sowieso bereits seit Jahren nicht mehr wegzudenken. Kein Wunder also, dass sich der ein oder andere Entwickler Gedanken darüber macht, wie er die optischen Eindrücke auch auf weitere Sinne ausweiten kann.
Darunter auch das spanische Unternehmen OWO, die bereits auf der CES 2022 ihre mit Elektroden ausgestattete Weste vorgestellt hatten, dank der VR/AR-Anwendungen dem Spieler ein physisches Feedback über Rückstoß, Treffer und einer ganzen Reihe weiterer Eindrücke geben können.
Mittlerweile steht die Auslieferung für Vorbesteller kurz bevor und auch auf der Gamescom in Köln hatte das Team einen Stapel der Hemden dabei und Interessenten dazu aufgerufen das System näher in Augenschein zu nehmen. Ich bin dieser Einladung gefolgt und habe den Anzug am eigenen Leibe ausprobiert.
Nicht schmerzhaft, aber fühlbar
Wobei ich vorab anmerken muss, dass sich das Anziehen des Hemdes durchaus als kleine Tortur erweist. Für den korrekten Kontakt der eingewebten Elektroden ist nicht nur ein körperenger Sitz notwendig. Darüber hinaus müssen auf alle Elektroden zuvor Gelpads angebracht werden, insgesamt 20 Stück, die zwar beim Tragen wenig stören, aber das Anziehen etwas „klebrig“ gestalten.
Weiterhin ist zu beachten, dass durch die elektrische Muskelstimulation nicht exakt das gleiche Schmerzgefühl einer Schuss- oder Stichverletzung simuliert werden kann. Längere Reize wie bei einer Stichwunde fühlen sich eher nach einem Kribbeln und Ziehen an, punktuell starke Reize wie ein Schusstreffer lassen eure Muskulatur und damit euch selbst aber regelrecht zusammenzucken.
Über die Stimulation des Bizeps lässt sich sowohl Rückstoß, wie die Kraftanstrengung beim Schieben und Heben schwerer Kisten simulieren. Insgesamt gibt das OWO Haptic Gaming System damit deutlich präzisere, besser zu ortende und authentischere Reize, als zum Beispiel das konkurrierende Produkt von Feelbelt, das mit mechanischern Impulsgebern (sprich „Vibratoren“) den Spieler durchrüttelt. Hier gibt es zwar ebenfalls Lösungen, wie der TactSuit von bHaptics, bei denen eine Vielzahl solch mechanischer Aktoren über Brust, Bauch und Rücken verteilt liegen. Allerdings ist Letzterer nicht nur sehr starr, sondern mit 1,7 Kilogramm auch nicht besonders leicht. Das Hemd von OWO ist mit seinen 600 Gramm im direkten Vergleich federleicht und der Stoff fühlt sich wie normales Funktionsshirt an.
Ein prickelndes Erlebnis
Auch vor direktem „Schmerz“ muss man mit dem Anzug keine Angst haben, denn nach dem Anziehen geht es erst einmal an die Kalibrierung und damit der Einstellung der Intensitätsgrade der unterschiedlichen Reize auf die verschiedenen Muskelgruppen. Wer von einem virtuellen Schlag auch in der Wirklichkeit weggerissen werden möchte, wählt den Maximalwert von Stufe 80. Ich hatte mich für den Anfang bei allen Einstellungen in den Bereich von Stufe 20 herangetastet, also einem Viertel der Leistung.
Anschließend konnte ich mit PSVR 2 Headset und Controllern bewaffnet den Anzug bei einer Runde im Rhythmusspiel Pistol Whip ausprobieren. Wie bereits beschrieben fühlten sich Treffer dabei natürlich nicht wie „echte“ Schusswunden an. Allerdings funktionierte das Zusammenspiel von dem visuellem Eindruck „Kugel trifft auf die rechte Brust“ und dem physischen Reiz „rechter Brustmuskel zieht sich zusammen“ bereits ganz gut. Eine provozierte Kollision mit einer Wand fühlte sich selbstredend ebenso nicht genau so an, als wäre ich mit der Nase voran gegen eine Wand gerannt. Das frontal großflächige Prickeln bestätigte mir jedoch: Das war gerade dumm. Und entsprach damit dem erwarteten Ergebnis.
Präzise Rückstoß-Simulation
Am besten hat mir tatsächlich die Simulation des Rückstoßes der Pistolenschüsse gefallen. Bei jedem Schuss stimulieren die Elektroden in den Hemdsärmeln den Bizeps und lassen so den Arm leicht nach oben zucken. Das kommt dem Rückstoß einer echten Waffe insofern nahe, dass der Effekt beim Schuss der gleiche ist. Darüber hinaus hat das Unternehmen dieses Jahr die Arbeit an einem zusätzlichen Sleeve angekündigt. Damit dürfte sich die Simulation von Rückstoß und Kraftanstrengungen sicherlich noch weiter präzisieren lassen. Weniger beeindruckend war hingegen die Simulation äußerer Umwelteinflüsse wie Wind oder Regen. Das damit simulierte Gefühl eines Prickeln auf der Haut war zwar nicht schmerzhaft, aber auch nicht besonders angenehm und erinnerte eher an einen krabbelnden Insektenschwarm.
Trotz des etwas umständlichen Anziehprozederes würde ich das OWO Haptic Gaming System aufgrund der vollen Bewegungsfreiheit, des niedrigen Gewichts und schlussendlich des „authentischsten Feedbackgefühls“ als die derzeit beste Lösung auf dem Markt betrachten. Die Immersion ist zumindest meines Erachtens deutlich besser, als das diffuse Gerüttel mechanischer Impulsgeber. Obgleich mich aktuell noch eine Hand voll Kritikpunkte davon abhalten, VR Spielern eine wirklich uneingeschränkte Kaufempfehlung auszusprechen.
500 Euro für die Founders Edition
Denn zum einen ist der Anzug nicht ganz günstig. Mit 499 Euro für die Founders Edition, welche in 3 Monaten lieferbereit sein soll, und 539 Euro für die spezielle Assassin’s Creed Mirage Edition, der ein Key für das VR-Spiel beiliegen wird, ist die Weste zwar kaum teurer als Westen mit mechanischen Impulsgebern. Dennoch ist das nicht wenig Geld für ein Gadget, zumal regelmäßig weitere Kosten für neue Gelpads anfallen. Diese sind zwar wiederverwendbar und halten auch einige längere Sessions durch. Früher oder später kommt ihr aber nicht am Austausch vorbei. Ersatzpads schlagen dabei mit knapp 40 Euro (4 Sets, 80 Pads) bzw. 75 Euro (10 Sets, 200 Pads) zu Buche. (Der Anzug selbst lässt sich im übrigen reinigen, ihr seid also nicht dazu verdammt auf ewig im eigenen Saft zu marinieren.)
Weiterhin ist die Liste der unterstützten Titel bisher noch recht mager. 5 Spiele bringen von Haus aus eine Unterstützung des Anzugs mit, für 20 weitere gibt es entsprechende Mods. Obgleich dank der Kooperation mit Ubisoft die Anzahl nativ unterstützer Titel zukünftig schneller ansteigen könnte, Assassin’s Creed Mirage macht als 26. Titel dabei sicherlich nur den Anfang. Damit bleibt das OWO Haptic Gaming System zusammengefasst ein Produkt für VR Enthusiasten, welche die Weiterentwicklung des Produkts auch finanziell unterstützen möchten. Spaß bereitet das Systems aber auf jeden Fall.